Streaming Theatre ist Körperarbeit mit den Mitteln des Theaters im Setting Bühne/Publikum. Ausgehend von Wilhelm Reichs Prinzip der segmentären Panzerung und mit Hilfe klassischer Schauspiel-, Atem- und Bewegungsarbeit geht es darum, unsere natürlichen Ausdrucksmöglichkeiten freizulegen; um die Freiheit, sich auszudrücken und darum, diese Freiheit auch zu nutzen.
Wir haben unsere Sinne: Wir riechen, sehen, hören, schmecken, wir spüren Berührungen auf unserer Haut. Und wenn wir eine Nachricht über unsere Sinne erhalten, verändert sich etwas in uns. Unser Körper reagiert tief in seinem Innersten - unserem Kern. Streaming Theatre hilft uns, diese Wahr-nehmung neu zu entdecken, sie zu schärfen, zu akzeptieren und uns wieder aus unserem Kern handeln zu lassen. Wir kommen wieder zu unseren Sinnen - wir kommen sozusagen wieder nach Hause.
Seinen Namen erhielt Streaming Theatre von dem amerikanischen Konzertpianisten und Theatermann Al Bauman, Mitbegründer von SKAN. Er entwickelte Streaming Theatre als Möglichkeit der Körperarbeit in der Vertikalen. Sein ursprüngliches Interesse war, Schauspielern, Sängern und Tänzern, mit denen er am Theater arbeitete, zu einem höheren Energielevel und mehr Freiheit im künstlerischen Ausdruck zu verhelfen. Dabei griff er kräftig in die Fundgrube des bedeutenden Schauspiellehrers Michael Cechov und hat dessen Erkenntnisse mit seinen eigenen Erfahrungen auf dem Hintergrund der Arbeit Wilhelm Reichs eindrucksvoll verbunden.
Reich hat erkannt, das unser energetisches System im Verlauf unseres Lebens seine Traumata, Blockaden und Bremsen in unserem Körper abzeichnet. Es sind Spuren gebundener, blockierter oder gebremster Energie. Es sind Verhärtungen, Ver-Panzerungen, die sichtbar gewordene Wand zwischen Dir und mir, zwischen mir und der Welt.
Wir erleben diese Verhärtung als schmerzhafte Abtrennung von der Umwelt, als ein nicht in Kontakt gehen können, als ein andauerndes Zweifeln und Denken in den Kategorien Falsch und Richtig, letztlich als ein Gefühl von Handlungsunfähigkeit und tiefer Einsamkeit.
Wird die innere und äußere Festigkeit und Körperstarre (bis hin zur chronische Kontraktion) überwunden, so gewinnen wir ein hohes Maß an Lebensfreude, Entspannung, innerer Leichtigkeit und Freiheit, mit der wir - gleichsam fließend – auf unseren emotionalen Wellen reiten und Theater als Lebens-Spiel begreifen. Ein Spiel, dem die Atembewegung inne wohnt: Ausdehnung/Entspannung, Nehmen/Geben, Fassen/Loslassen.
Auf der Basis der oben beschriebenen Öffnungsarbeit bietet sich den SpielerInnen die Chance, Schritte außerhalb des bekannten Handlungsrahmens, außerhalb des eigenen Charakters zu wagen. Sei es in Bewegung, Monolog oder einer Szene mit anderen SpielerInnen. Oft erarbeiten wir individuelle Performances, deren Ziel es nicht ist, wiederholbar zu sein (sie gleichen eher Movements und Improvisationen, als klassischen Theateraufführungen), sondern diese Performances bilden den Boden, auf dem die Protagonisten im wahrsten Sinne des Wortes „über sich hinauswachsen“ können.
Diese Grenzüberschreitung nennen wir „aus-dem-Charakter-Treten.“ Es bedeutet, bisher unbekannte und verdeckte Teile der eigenen Person zu ent-decken und diese Teile immer mehr in persönlich erfahrene und neu geschaffene Wirklichkeiten zu verwandeln.
„In diesem Sinne ist Streaming Theatre als Entdeckungsreise zu sehen.“
Eine Entdeckungsreise ist keine Pauschalreise mit gebuchtem Hin- und Rückflug. Nein, eine Entdeckungsreise ist eine Reise ab einem bestimmten Punkt mit dem Ziel, etwas zu finden.
Um unsere neue Erlebniswelt ausdehnen zu können, benötigt es Nähe, Kontakt und Beziehung, sowie die Möglichkeit, sich mit diesen neuen Erfahrungen mitzuteilen, indem wir andere Menschen energetisch und fühlbar an unserer atmenden, pulsierenden Lebendigkeit Teil haben lassen. Und ebenso mitfühlend und spürend an dem Menschen Teil zu haben, der gerade mit uns ist - ein wechselnder Input/Output also. Im Streaming Theatre ist dies die Aufgabe des Publikums: Die Gruppenteilnehmer oder Besucher unserer Aufführungen sind nicht etwa konsumierende Theatergänger, sondern sie sind lebendiger und unverzichtbarer Teil des Ganzen, das diese „wahren“ Momente auf der Bühne erst möglich macht: Von Angesicht zu Angesicht.
Rainer Conrad